Depressionen sind weit verbreitet, doch viele Betroffene und Angehörige sind unsicher, woran sie die Erkrankung erkennen und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt. Wir haben mit Psychiater und MEDICLIN-Experte Gregor Schmid darüber gesprochen, welche Warnsignale ernst genommen werden sollten, welche Therapien helfen und wie man langfristig Rückfälle vermeiden kann. Schmid ist Chefarzt der MEDICLIN Klinik am Vogelsang in Donaueschingen in Baden-Württemberg.
Welche Warnsignale oder Symptome sollten Betroffene und Angehörige frühzeitig ernst nehmen, um eine Depression rechtzeitig zu erkennen?
Depressive Symptome können sehr unterschiedlich sein und sich individuell äußern. Deshalb ist es wichtig, dass jeder Betroffene seine eigenen Frühwarnzeichen kennt. Häufige Anzeichen sind zum Beispiel Schlafstörungen. Wer solche Veränderungen bemerkt, sollte frühzeitig einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen, um rechtzeitig reagieren zu können. Ein absolutes Warnsignal sind Suizidgedanken – spätestens dann ist es dringend notwendig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Welche Therapieansätze haben sich in der Behandlung von Depressionen bewährt, und wie wählen Sie die passende Therapie für Ihre Patientinnen und Patienten aus?
Als Psychiater behandeln wir nicht nur eine Krankheit, sondern den ganzen Menschen. Die Symptome einer Depression sind von Person zu Person unterschiedlich, und nicht jeder leidet gleich stark darunter. Deshalb passen wir die Behandlung individuell an – sowohl an die Wünsche der Betroffenen als auch an die Symptome, die im Vordergrund stehen.
Eine erfolgreiche Psychotherapie basiert vor allem auf einer guten Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem Patienten. Beide sollten sich gut verstehen und eine gemeinsame Vorstellung davon haben, welche Faktoren die Erkrankung ausgelöst und aufrechterhalten haben. Je nach therapeutischem Ansatz kann der Fokus eher auf äußeren Einflüssen oder auf inneren Prozessen liegen.
Bei der medikamentösen Behandlung richten wir uns ebenfalls nach den Symptomen. Zum Beispiel bekommt jemand mit einer sehr unruhigen, „agitierten“ Depression kein Medikament, das den Antrieb zusätzlich steigert. Ebenso muss man vorsichtig sein, wenn ein Patient mit Suizidgedanken ein antriebssteigerndes Medikament erhält. Andererseits kann eine gezielte Antriebssteigerung hilfreich sein, wenn jemand unter starkem Antriebsmangel leidet.
Warum ist es so wichtig, die Behandlung über das Abklingen der akuten Symptome hinaus fortzusetzen, und wie unterstützen Sie Betroffene in dieser Phase?
Nach dem sogenannten biopsychosozialen Modell hat jeder Mensch eine individuelle Verletzlichkeit (Vulnerabilität) gegenüber psychischen Belastungen. Auch wenn eine depressive Episode abklingt, bleibt der Patient zunächst empfindlich und anfällig für Rückschritte. Manche Menschen neigen dazu, solche Rückschritte als komplettes Scheitern zu interpretieren, anstatt ihre Fortschritte zu sehen. Deshalb ist es entscheidend, die Behandlung über das akute Stadium hinaus fortzusetzen. Nur so lässt sich eine stabile Verbesserung erreichen und das Risiko einer erneuten Verschlechterung reduzieren – besonders da eine Depression auch chronisch werden kann.
In dieser Phase unterstützen wir Betroffene, indem wir sie auf ihre Fortschritte hinweisen und ihnen helfen, ihre Genesung als Veränderungsprozess wahrzunehmen. Gleichzeitig gilt es, sich nicht zu überfordern. Viele möchten nach einer depressiven Episode direkt wieder ihre volle Leistungsfähigkeit erreichen, aber das braucht Zeit. Auch nach dem Abklingen der Hauptsymptome kann es noch einige Wochen dauern, bis die frühere Belastbarkeit zurückkehrt.
Bei einer medikamentösen Therapie ist es wichtig, die Behandlung mit der Dosis fortzusetzen, die zuvor gewirkt hat. Die Dosierung orientiert sich immer an der Balance zwischen Wirkung und möglichen Nebenwirkungen.
Welche Strategien oder Maßnahmen empfehlen Sie, um Rückfälle zu vermeiden und die psychische Gesundheit langfristig zu stabilisieren?
Jeder Mensch ist sein eigener „Selbstbehandler“. Das bedeutet, dass Patientinnen und Patienten lernen sollten, sich selbst gut zu verstehen. Sie sollten wissen, welche Maßnahmen ihnen geholfen haben und welche sie weiterhin beibehalten können, um sich stabil zu fühlen.
Besonders wichtig ist es, belastende Situationen realistisch einzuschätzen. Große Veränderungen im Leben – wie ein Jobwechsel, eine Beförderung, das Ende einer Beziehung oder ein Todesfall – sind keine guten Zeitpunkte, um eine Psychotherapie zu beenden oder Medikamente abzusetzen. Solche Schritte sollten in einer möglichst stabilen Phase erfolgen.
Wie können wir als Gesellschaft dazu beitragen, das Thema Depression zu enttabuisieren und Betroffenen den Zugang zu Hilfe zu erleichtern?
Die Antwort steckt bereits in der Frage: Depression sollte kein Tabuthema sein. In einer offenen Gesellschaft sollte es selbstverständlich sein, über psychische Erkrankungen sprechen zu können – ohne Zwang, sich „outen“ zu müssen.
Wirkliche Toleranz zeigt sich oft in der Praxis: Wie reagieren wir, wenn ein Kollege wegen einer Depression längere Zeit ausfällt? Betroffene sollten nicht auf ihre Krankheit reduziert werden. Viele sehen sich selbst nicht als krank, sondern fühlen sich einfach als „unzureichend“ oder glauben, ihre Situation sei eine Art Strafe. Außenstehende können oft besser erkennen, dass es sich um eine Erkrankung handelt, die behandelbar ist.
Wenn es uns gelingt, Betroffene von ihrer Krankheit zu trennen und ihnen zu zeigen, dass sie trotz Depression dieselben Menschen bleiben, kann das ein wichtiger Schritt zur Heilung sein.